Tourismus ist Terror

“The traveler sees what he sees, the tourist sees what he has come to see.”
— G.K. Chesterton

Es bedarf keiner weit ausholenden Erklärung, um zu zeigen, dass Reisen eine großartige Möglichkeit ist, sich weiterzubilden, fremde Länder, Sitten und Kulturen kennenzulernen, als auch den Charakter zu formen. Lange Zeit war das Reisen lediglich Bestandteil des Lebens der vermögenderen Gesellschaftsschicht. Reisen war ein anspruchsvolles und vor allem teures Unterfangen. Wer reiste, der hatte üblicherweise mehr als nötig, und konnte sich dadurch von anderen absetzen. Es war ein Privileg und Statussymbol.

Doch im Gegensatz zu vorangegangenen Jahrhunderten ist es heute kaum mehr ein absonderliches Privileg weite und lange Reisen vorzunehmen. Frische Abiturienten fliegen in die Welt hinaus – nach Thailand, Malaysia, Vietnam. Hauptsache weit weg und exotisch soll es sein. Eine philosophische Reise in ein fremdes Land, ein Abenteuer in die eigene Persönlichkeit, kosteneffektiv, wild aber dennoch sicher. Du hast genug Geld auf dem Konto, um nicht vollkommen abzustürzen, der Impfpass ist voller „Getan“-Häkchen und der Reiseführer empfiehlt die besten Hostels, warnt vor Dieben und gefährlichen Vierteln. Die Reise kann losgehen. Dazu schreibst du einen Blog im Internet, stellst deine Fotos online, in denen du einem Eroberer gleichkommst: die Arme weit auseinander gespreizt, die Welt umarmend, du vollführst einen Handstand auf der chinesischen Mauer oder zeigst einen ausgefahrenen Daumen bei einem Tauchgang mit Riffhaien. Und ohne es zu bemerken wirst du zu Laurence Sternes „Yorick“ (A sentimental Journey), einem Reisenden der vollkommen ich-bezogen auf dem Weg zur eigenen Erkenntnis die Welt durchwandert, und dabei den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, während er seine Lust über alles stellt.

Ich selber bin noch zu meiner Schulzeit nach Mumbai, Indien, geflogen, residierte in einem Hotel mit Zimmerservice und nie ausgehendem frisch-gepressten Orangensaft. Zu den Flanken des Hotelkomplexes erstreckten sich weitläufige Slums. Das Elend war zum Greifen nah und wurde als Sehenswürdigkeit angepriesen, als Zusatz zur Kultur, wie die weiße Kuh auf der Straße und die bettelnden Kinder, welche sich in das Fenster meines Taxis quetschten, um nach Kleingeld zu bitten, was mit einer Hand-zum-Mund Geste geschah. Es dauerte keine drei Tage bis ich wieder nach Hause wollte, zurück ins gelobte Europa, wo die Straßen eben und die Menschen schön anzusehen waren. Ich konnte hier nicht bleiben, fühlte mich fern, war unsicher und ohnmächtig gegenüber der Armut, die ich sah. Vielleicht projizierte ich auch nur ein elendiges Dasein auf das Leben der Menschen, da mir diese Art von Lebensumständen absolut fremd war. Wie auch immer, mir wurde bewusst, dass wenn ich keiner von den Leuten bin, die dort leben können, meinem Aufenthalt etwas Essentielles fehle. Ich fühlte mich schuldig, denn ich war ein Tourist, der dafür bezahlt hatte, Menschen leiden zu sehen, um seinem eigenen Charakter Tiefgang zu geben. Es war mir eine Perversion, die Armut durch eine hundert Euro teure Sonnenbrille anzuschauen. Ich blieb die geplanten fünf Tage und flüchtete regelrecht ins Flugzeug, das mir beim Start den Blick auf Dharavi, dem größten Slum Indiens mit seinen 600.000 bis 1.000.000 Bewohnern, eröffnete.

Ich zehre noch immer von den Erfahrungen meiner Reise nach Indien, doch das Bedeutendste, das ich dort lernte, war, nicht die nächste Fliege auf dem Kadaver zu sein, den die Welt mir bereitstellt. Selbstverständlich ist eine derartige Reiseerfahrung vielleicht sogar notwendig, um zu eben einer solchen Einsicht zu kommen, wie ich es tat, aber das bewusste, der Reflektion verpflichtete Reisen ist auch nicht Bestandteil meiner Kritik.  

Playa_Maya,_Ko_Phi_Phi,_Tailandia,_2013-08-19,_DD_10 Diego Delso via Wiki Commons

Über soziale Netzwerke wie Facebook wird besonders deutlich, wie unglaublich „en vogue“ es ist, in entfernte Länder zu fliegen, um dort einfach Anwesenheit zu betreiben. Es erschließt sich mir als Gruppenneurose, dass die Einzelnen sich gezwungen fühlen an Orten zu verewigen, „die per definitionem durch ihre schiere Anwesenheit als Touristen längst zerstört“ sind (D.F. Wallace – Am Beispiel des Hummers). Ein Beispiel dieser egoistischen Extravaganz ist Maya Beach in Thailand. Dieser Strand wurde durch den Spielfilm The Beach mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle berühmt, und dient nun seit Jahren dem Tourismus. Groteskerweise ist die Crux des Films die Verschwiegenheit über diesen Strand, da eine Gruppe von Aussteigern sich dort einem naturbezogenen Leben in Harmonie hergibt. Es dreht sich also darum, die Existenz des Ortes geheim zu halten, vielmehr noch in Ehre zu halten, damit er nicht der Masse verfällt. Dem Wunsch, einen so unberührten Ort mal wahrhaftig zu betreten, konnten in der Realität nicht wenige widerstehen, und so, googelt man einmal „Maya Beach“ unter der Bildersuche, findet man bei fast jedem dritten Bild ein Touristenfoto, auf dem sich ein Jemand vor der nunmehr berühmten Kulisse hat fotografieren lassen. Ich frage mich, was die Menschen empfinden, wenn sie diesen Ort besuchen, oder in der Heimat sich ihre Ablichtung anschauen. Ohne Zweifel werden sie sich glücklich schätzen, doch wohl eher nicht im Hinblick auf ein Dasein in naturbezogener Harmonie, – wie soll das denn auch möglich sein inmitten hunderter anderer Gleichverirrten? – sondern eher eben diesen besonderen Strand einmal betreten zu haben. Einen Strand der im Film so wunderschön ist, dass er geheim gehalten werden muss. Man erhebt sich selbst zu etwas besonderem, zu einem Teil der Auserkorenen – man gehört zu den Leuten, die auf Partys nun mitreden können, wie wunderschön dieser Strand, wie weich der Sand, und wie türkis das Meer dort ist, während alle Nesthocker ehrfürchtig und neidvoll in ihre Gläser blicken dürfen. Und mit jedem Fuß, der diesen Strand betritt, wird er zu etwas weniger Besonderem, zu einer Attraktion, einer Mona Lisa fernab der echten Schönheit der Naturlandschaft. Simultan schadet man, aufgrund von Futterneid auf Urlaubsebene, dem ökologischem Gleichgewicht des Ortes. Das Unberührte muss seinen Status aufgeben, damit der Mensch es schafft, mehr aus sich zu machen. Und es reicht ihm, wenn er auch nur im Schein der Unberührtheit badet.Tourist_July_2011Hier siehst du gut, worum es dem Touristen eigentlich geht: Ich! Ich! ICH! 
Foto von Zahid nz 

Alles dient der Selbstdarstellung in der breiten Öffentlichkeit des Internets. Man ist selbsternannter Reisefotograf und weiß von sogenannten „Hotspots“ zu berichten. Statusmeldungen werden zur Leuchtreklame der Selbstverwirklichung, und in Großschrift werden Städtenamen und andere Orte unter die virtuelle Gemeinschaft geworfen: PRAHA! ; BEIJING! Es wird ausschließlich der fremdsprachliche Ausdruck verwendet. So wissen nun alle, dass man künftig nach Prag oder Peking fliegt. Das Privatleben wird in Schlagwörtern beschrieben, und erscheint nur noch als Mittel zum Zweck, wobei es als Mittel und Zweck gleichzeitig verstanden und missverstanden wird: Leben ist der Sinn des Lebens und dient gleichzeitig als Darstellung durch und von sich selbst, ohne sich selbst im Spiegel anzuschauen. Das Leben wird benutzt, um dem Leben mehr Leben zu geben. Die Zirkularität würde verschwinden, wenn dem Inneren mehr Aufmerksamkeit als dem Äußeren geschenkt werden würde. 

Weiterhin findet eine explizite Separation statt, ein Hervorheben des eigenen Lebens, um im Strom der Masse nicht unterzugehen. Doch eine bedeutende Konsequenz des fanatischen Individualismus der mir bekannten Gesellschaft ist, dass man sich mit eben diesem Verhalten wiederum eingliedert und ein Teil der Massenpanik wird, die nomadisch von Ort zu Ort wandert, ohne jemals etwas zu finden, geschweige denn etwas von diesem Ort zu verstehen. Alles dies geschieht unter dem Schutzmantel der Selbst(er)findung und einer verzweifelten Anhäufung von Eindrücken, die kaum etwas anderes hervorbringt, als starre Erinnerungen von Orten, die ohne den eigenen Besuch besser dran gewesen wären. Selbstverständlich gibt es Ortschaften, die fast ausschließlich von Tourismus aufrechterhalten werden, doch ist das bei weitem kein Eingeständnis dafür, dass die Orte aufgrund ihrer Beschaffenheit notwendig dem Tourismus versprochen seien, geschweige denn diesen brauchen. Zuerst war der Ort, dann kam der Tourismus. Er kam, er konsumierte, er zerstörte. 

Literaturliste:

-Wallace, David Foster – Am Beispiel des Hummers – 2008, 2010 Verlag Kiepenhauer &Witsch GmbH & Co. KG, Köln, Titel der Originalausgabe: Consider the Lobster

-Sterne, Laurence – A Sentimental Journey – editorial matter 2003 Tim Parnell, first published 1968 Oxford University Press




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