Rezension: Alles Licht, das wir nicht sehen von Anthony Doerr

Der Roman bekam den Pulitzer Preis, wurde in unzähligen Kritiken gefeiert. Schon jetzt wird er als Klassiker gehandelt. Weil er sich gut lesen lässt, weil er ab der ersten Seite zum Pageturner avanciert, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Dieses Buch lässt sich schwer aus der Hand legen. Und doch, am Ende passt etwas nicht, etwas fehlt. Alles das, was wir nicht sehen. Begeben wir uns auf Spurensuche.

Gewaltige Sätze stellen den Rahmen von Alles Licht, das wir nicht sehen. Eine ebenso gewaltige Arbeit muss da vor uns liegen, so suggeriert es das Cover, die Aufmachung; alles. Zwei außergewöhnliche Menschen treffen sich in diesem Roman. Es ist die junge, erblindete Französin Marie-Laure und der Waise und spätere Soldat Werner aus dem Ruhrgebiet. Beide verfolgen wir bis an das Ende des Krieges, über zehn Jahre, bis nach Saint-Malo, die Amerikaner stehen vor der Befreiung des französischen Städtchens. Die kurzen Kapitel – teilweise nur auf einer Seite – erzeugen Spannung ohne dabei zu dünn oder oberflächlich zu wirken. Teilweise sind sie ein Segen.

Das Mädchen verliert sich in Naturwissenschaften, in ihrem Gepäck befindet sich ein kostbarer Stein aus dem Museum, in dem ihr Vater im besetzten Paris arbeitete. Der feinfühlige Soldat Werner wird aufgrund seines Talents im Auftrag der Nazis ausgesandt einen Sender zu suchen und zu zerschlagen; einen, der die Resistance mit Infos zersorgt. Dieser befindet sich auf dem Dachboden von Marie-Laures Onkel; das Mädchen und der Mann sind längst Verbündete. Bald schon kreuzen sich die Wege der Protagonisten, das ist klar. Aber die Art und Weise, wie Doerr die Stränge verknüpft und scheinbar unchronologisch verbindet, ist beeindruckend.

Es sind vielmehr die Dinge, die wir nicht sehen, die zuweilen irritieren. Zumindest gehören sie der subtilen Riege an, sogleich die Story handwerklich gut gemacht ist. Es geht um die Sprache. Die Selbstverliebtheit des Autors, die zeitweise auf dem Blatt sichtbar wird und die aus dem grandiosen, vielschichtigen, wie auch interessanten Plot – und das muss man bei einem Thema wie den 2. Weltkrieg erst einmal hinbekommen – heraustritt, um den Leser schlimmstenfalls zu verärgern, macht aus einem guten Buch eines mit einem Handicap; eines, das auch davon erzählt, dass dem Autor die nötige Distanz zu seinen Figuren fehlt.

Dabei ist es erstaunlich, wie gut diese gezeichnet sind. Wie sie vor unserem inneren Auge lebendig werden. Als Leser wollen wir beinahe, dass sich die Protagonisten unsterblich verlieben, und es ist gewagt, Liebe nicht zum Hauptstrang werden zu lassen in einer fiktionalen Welt, in der Liebe als einziger, sinnvoller Maßstab zählt.

Aber schon auf Seite 26 wird es zu filmisch, zu szenisch. Einen Wald voller “sterbender Sonnenblumen” sieht Werner da, einen “Schwarm Amseln”, der aus einem Baum ausbricht. Stellen wir uns dieses Bild in seiner Konsequenz vor wird es schnell kitschig in unserem Oberstübchen. Das Radio bindet „Millionen von Ohren an einen einzigen Mund“. Die „Stakkatostimme“ des Reichs wächst wie ein „unerschütterlicher Baum, und die Untertanten beugen sich zu seinen Ästen hin, als wären es die Lippen Gottes.“

Später im Buch, da reicht Marie-Laure ihrer Tante die Hand; es könnte die Hand einer „Geologin und Gärtnerin“ sein; und vor lauter Ärger möchten wir den Autor fragen: „Ja, was denn nun?“ Nicht, weil wir nicht verstehen, was er uns sagen will. Sondern, weil wir es viel zu plump serviert bekommen.

Diese Prätentiosität braucht Doerr nicht. Es scheint, als wolle der Autor dort eins draufsetzen, wo wir schon am Gipfel des Berges angekommen sind. Distanz, ein bisschen Luft – alles das, was wir nicht sehen – fehlt diesem Buch, um aus einem Guten ein Großartiges zu machen.

Wir lesen eine gelungene Story, die an einer stellenweise zu perfektionistisch konstruierten Sprache kränkelt. Für literarisch Anspruchsvolle, wider Erwarten, nicht der neue Jean-Paul Sartre, aber für Leser mit einem soliden Sinn für Literatur: Ganz genau das Richtige.


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