Politische Apathie bei John Rawls

Wenn die heutige Politik keine Unterscheidung zwischen Links und Rechts mehr kennt, dann stellt sich auch die Frage, was denn Politik heutzutage überhaupt sein soll. Denn wenn Politik heute nurmehr die Aufgabe inne hat, dem Kapitalismus den Arsch zu retten, dann wird auch klar, dass sich die Politik auch nur über jene Art von Vernunft definieren kann, welche die Wahrheit des Marktes zum Gegenstand hat: Alles andere wird als unvernünftig (beziehungsweise als „nicht fähig zum Regieren“) ausgegrenzt. Doch das Andere dieser Politik findet seine Realität im Sozialen, als Ausdruck lebensweltlicher Antagonismen und qualifiziert sich somit als das Politische schlechthin: die Suspension dieser Alterität ist die Suspension der Politik und John Rawls ist ihr berühmtester Apologet.

In Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft versucht Rawls divergierende und sich diametral gegenüber stehende „Lehren“, in einem auf politischer Vernunft gegründeten Systemen, in Einklang zu bringen. Rawls gilt heute als einer der wichtigsten und einflussreichsten Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Inwiefern seine Argumentation aber stichhaltig ist, oder überhaupt sinnvoll, und wie Rawls’ Theorie unser Leben heute beeinflusst, versuche ich hier zu beleuchten.

Rawls bezeichnet den von ihm verwendeten Begriff der Vernunft als öffentlich, „insofern sie im öffentlichen Vernunftgebrauch durch eine Familie vernünftiger Konzeptionen des politische Gerechten zum Ausdruck gebracht werden, von denen angenommen wird, dass sie das Kriterium der Reziprozität erfüllen.“ Besonders das Letzere bezieht sich auf ein der öffentlichen Vernunft folgendes Bürgertum, welches durch eine Beschränkung auf rein politische Fragen, vernünftige Übereinstimmungen erzielen kann. Vernünftige Übereinstimmungen sind solche, welche, den Grundsätzen der anerkannten politischen Vernunft folgend, allgemein akzeptable Übereinkünfte finden. Da, wie Rawls bekräftigt, die vielen Lehren, die sich in der Zivilgesellschaft konstituieren, oft in keiner Weise kompatibel sind, sollte die politische Diskussion sich eben auf rein politische Fragen beschränken, um den ideologischen Zündstoff zu umgehen, der diese trennt. Um dies behaupten zu können, ist Rawls jedoch angewiesen das (rein) Politische, welches im Kern durch eine Familie „vernünftiger Konzeptionen von Gerechtigkeit“ konstituiert ist, in klarer Weise abzugrenzen von der sogenannten Hintergrundkultur. Aus dieser können sich nur diejenigen „Lehren“ im politischen Feld beteiligen, die die dafür vorgesehenen Grundätze des Politischen Liberalismus eben akzeptiert haben. Dies lässt sich auch damit belegen, dass Rawls es zwar ablehnt, dass sich solche Grundsätze aus verschiedenen Lehren konstituieren, jedoch fordert er, dass sie sich aus einer vollständigen politischen Konzeption ableiten lassen; wo nun der Unterschied zwischen einer Lehre und einer politischen Konzeption beruht ist mir jedoch nicht ganz klar.

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John Rawls als Graffiti. Sieht recht apathisch aus. Foto: © Paule Drouin.

Um den Zugang zur politischen Öffentlichkeit in klarer Weise von der Hintergrundkultur abzugrenzen, führt Rawls die Idee des „Vorbehalts“ ein, der sicherstellen soll, dass jene Werte auf die man sich bezieht ausschließlich politischer Natur sind und keiner religiösen oder philosophischen Weltanschauung verschuldet sind. Rawls will einerseits das Prinzip einer pluralen Gesellschaft nicht aufgeben, besteht andererseits jedoch weiterhin auf eine, dem politischen Liberalismus verhaftete, Abgrenzung. Deshalb fordert er von—zum Beispiel religiösen „Lehren“—nicht nur eine Befolgung der konstitutionellen Regeln in der Form eines bloßen „modus vivendi“, sondern eine substantielle Anerkennung dieser Regeln und Werte. Dies muss nicht bedeuten, dass diese laizistischen Werte und Regeln notwendigerweise in Kontrast zu den Grundsätzen der verschiedenen Lehren stehen, wie Rawls es am Beispiel von verschieden Religionen zeigt. Diesen Lehren wird der Status der vernünftigen Argumentation verliehen, wenn sie imstande sind, die liberalen Grundsätze in ihre Lehren zu integrieren, während jene Lehren, die die Grundsätze des politischen Liberalismus nicht akzeptieren, als unvernünftig definiert werden.
Wie bereits erwähnt, behauptet Rawls, dass „in der öffentlichen Vernunft die auf umfassenden Lehren beruhenden Vorstellungen des Wahren und Richtigen ersetzt werden durch eine Idee des politisch Vernünftigen, die sich an Bürger als Bürger wendet.“

Dies hat meiner Meinung nach zwei schwerwiegende Folgen:

1. Zum Einen nimmt Rawls, durch eine forcierte Positivität der Gesellschaft, jede Form politischer Auseinandersetzung vorweg, was bedeutet das Politische selbst auszugrenzen; Rawls kann sich deshalb auch nicht in überzeugender Art und Weise gegen den Vorwurf eines Stillstandes, den er implizit propagiert, verteidigen. Natürlich liegt Rawls richtig wenn er versucht destruktive Randgruppen durch eine allgemein anerkannte politische Vernunft auszugrenzen. Ein gutes Beispiel dafür sind die kopflosen Piraten! Das Problem ist, so glaube ich, dass Rawls die „Familie vernünftiger Konzeptionen des politische Gerechten“ direkt aus dem (politischen) Liberalismus ableitet und ihm so das Monopol der politischen Vernunft zuspricht. Während Habermas „das“ Rationale verwendet um die öffentliche Willens- und Meinungsbildung in Bezug auf ihre jeweilige institutionelle Kanalisierung abzugrenzen, will Rawls das ganze politische Feld anhand seiner Idee der (politischen) Vernunft ab- oder ausgrenzen.
2. Auch wenn man jeden Bürger im Kern als rational und wohlschaffend begreifen möchte, so fällt es doch schwer, sich Bürger als „nicht sozial situiert “ (Rawls) vorzustellen. Gleichheit wird formal und innerhalb einer Rechtsordnung definiert, die den Wohlstand schützt und die aneignende, besitzergreifende Macht des Individuums stärkt. Aber nur so kann Rawls behaupten, dass der politische Liberalismus durch (als vernünftig anerkannte) Gerechtigkeitsgrundsätze, welche von politischen und sozialen Institutionen vertreten werden, in der Lage ist, soziale Konflikte Großteils zu vermeiden. Da sich, wie ich meine, das Politische erst durch das Soziale konstituieren kann, nimmt Rawls, neben dem oben besprochenen Anspruch auf Rationalität, hier zum zweiten Mal das Politische vorweg. In diesem Sinne behauptet Rawls auch dass, ebenso wie ein Richter, bei Gleichwertigkeit von legalen Argumenten, sich nicht nach persönlichen politischen Ansichten entscheidet, auch Bürger sich im Falle eines „Stillstandes“ nicht einfach auf grundlegende Argumente aus ihren umfassenden Ansichten berufen können. Der für Habermas noch so wichtige Prozess der zivilgesellschaftlichen Willens- und Meinungsbildung wird so durch eine exzessive Trennung von öffentlicher und privater Sphäre außenvorgelassen, wobei das Individuum, frei von gesellschaftlicher Bedingtheit, autonom und rational Präferenz-Entscheidungen zu treffen hat; als ob etwa der Angestellte im Callcenter in der Öffentlichkeit seinen Hungerlohn, zugunsten staatlicher Einsparungsprogramme, gut heiße würde!

Ich befürchte also, dass Rawls beim Versuch eine wohlgeordnete Gesellschaft zu gestalten, in der sich wiederstreitende Lehren auf einer vom Sozialen abstrahierten Ebene der Vernunft einigen, eine mögliche plurale Gesellschaft schon im Prinzip vorwegnimmt und damit unmöglich macht.

Wer sich für Rawls und seine Ideen interessiert, der kann hier mehr erfahren:
Rawls, John (2002). Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft. In J. Rawls (Ed.), Die Rechte der Völker. Berlin; New York: Walter de Gruyter.


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