Der neugefundene Altruismus der Generation Smartphone

Lampedusa ist anders, als du es dir vorgestellt hast. Es gibt kleine Strände, Bars, einen Flughafen, über den Touristen hin- und hergeflogen werden. Keine Flüchtlinge, die am Hafen schlafen. Keine Eritreer, die Schlange stehen vor den Supermärkten, um das letzte Brot zu ergattern. Aber mal Hand vom Smartphone: Interessiert dich das wirklich?

Wir scrollen über Grenzschließungen hinweg, wie über Rezensionen zum neuen Miley Cyrus Album. Wir verüben Brandanschläge auf unserer Timeline, indem wir wegschauen. Was mit Edward Snowden passiert ist, wird auch hier passieren: Jeder Solidaritätswelle wohnt ein Ende inne. Unsere neue Welt ist – das wird sich zeigen – der Nachhaltigkeit überdrüssig.

Seit ich auf Lampedusa gelandet war, war der Internetzugang für mich das Wichtigste. Ich musste in Kontakt bleiben, musste recherchieren, ob eine Schiffsankunft gemeldet wurde, machte Fotos und Notizen. Zeitgleich brannte Deutschland wieder. Tausende wurden am Bahnhof begrüßt und mit Lebensmitteln versorgt. Dennoch verging nicht eine Stunde, ohne dass ich der Welt mitteilte, was ich für sie als wichtig erachtete. Ich hatte die Kontrolle über meine Handlung verloren. Schuld war ein inflationäres #refugeeswelcome.

Ich fing an, mir selbst Fragen zu stellen. Was bedeutete dieser neu entdeckte Altruismus in uns, der unser Smartphone zum Komplizen werden lässt, um uns in ein gutes Licht stellen? Warum wollten die Lampedusaner nicht mehr über das Thema sprechen, was sie seit dem tragischen Unglück 2013 mit mehr als 300 Toten in das Interesse der Weltöffentlichkeit gerückt hatte?

Ich veröffentlichte Bilder über das Port d’Europa, das erste und einzige Mahnmal Europas für das Massensterben auf dem Mittelmeer. Ich tweetete über meine Gefühle, als ich die Wracks der Schlepperboote im alten Hafen entdeckt hatte. Die Reaktionen waren bescheiden, das Thema längst nicht mehr brisant. Weil es keine neuen Helden gefunden hatte. Weil Lampedusa in die Unbarmherzigkeit der Ungarn und Mazedonier, die den Narrativ der unbelehrbaren Osteuropäer vertiefen, nicht mehr hineinpasst.

Als ich mein Smartphone ausschaltete, schwappte auf Lampedusa das Wasser weiter ans Ufer. Die Fischerboote düsten weiter in Richtung Nordafrika; der Mojito wurde an den Bars nach altbekanntem Rezept gemixt. Es war halb zehn, ich auf dem Weg ins Hotel. Am Hafen sah ich das kaltblaue Licht der Krankenwagen und der Carabinieri. Ich ging näher an den Zaun heran. Die Helfer versorgten die etwa 100 Flüchtlinge, die vor der libyschen Küste aufgelesen worden waren. Ohne Aufsehen warteten die Menschen in der Dunkelheit, nebenan hörte ich laute Musik. Der Mann vom roten Kreuz erklärte uns, dass gestern ein ähnlich großes Schiff angekommen war. Niemand hatte etwas gesehen: Die Presse war weitestgehend von der Insel abgerückt.

Als der Bus mit den Flüchtlingen an uns vorbeifuhr – etwa 20 Anwohner und Touristen hatten sich vor der Militärzone versammelt – griff niemand nach dem Handy. Niemand wollte wissen, wie spät es war. Die Zeit war stehen geblieben. Lange blickten wir den dunklen Gesichtern, erleuchtet von Hafenlichtern, auf dem Weg in ihre neue Heimat nach. Unsere Willkommensrufe verstummten, nachdem sie ausgesprochen waren. Sie wurden von keiner Kamera festgehalten. Vielleicht ist das alles auch nie passiert. Pics or Lampedusa didn’t happen.

Am nächsten Tag wurde Facebook mit der deutschen Hilsbereitschaft überrollt. Überall Fotos und Videos von den Verlorenen an Bahnhöfen; große Unternehmen entwickelten Dienste für die Flüchtlinge und verbreiteten diese als Eilmeldungen über die Netzwerke. Als Jahre vorher die Situation vor Europas Toren eskaliert war, hatten sie geschwiegen. Keine nennenswerten Aufschreie bei der Einstellung von Mare Nostrum.

DSC_1230Ein Selfie, das bezeugt, dass ich wirklich auf Lampedusa war.

Es ist gut, dass jetzt so viel getan wird. Den Brandanschlägen haben wir ein Leuchtfeuer an Gutmütigkeit entgegengesetzt. Nach der neuesten griechischen Tragödie zeigten wir Merkel und Schäuble, dass wir Deutschen uns einig sind, welche Rolle wir in Europa übernehmen wollen – fernab von den Vorstellungen der politischen Klasse. Es wird allerdings grenzwertig, gar anmaßend, wenn auf Menschen, die gerade angekommen sind, ein Regen an Klicks und Hashtags niedergelassen wird. Auch ich habe nach unserem selbst ernannten Empfangskomitee die ganze Nacht am Hafen von Lampedusa gesessen. Ich stellte ein Schild auf, ein paar Kerzen. Ich postete das Foto online. Schrieb einen langen Text dazu.

Es ist ein langer Weg dahin zurück, wo wir einst waren: bei uns selbst. Bei denen, die unsere Hilfe suchen. Wir brauchen wieder einsame Inseln in uns, unkommentiert von der Öffentlichkeit. Dann wird es uns gelingen, dauerhaft Hilfe zu leisten. Eine, die heller leuchtet als jede Smartphonekamera. Grenzen öffnen heißt, dem anderen in die Augen zu schauen. Ohne jeden Filter.


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