Der König von Augsburg
Was dem König von Augsburg überhaupt nicht passt, sind Schnuller. Deshalb schaut er auch ganz genau in jeden Kinderwagen. Entdeckt er einen Säugling oder ein Kleinkind mit einem Luller im Mund, schimpft er die Eltern ungehalten. „Die Kinder sollen mitreden können!“, ist des Königs Weisung.
Jetzt wunderst Du Dich wahrscheinlich, warum ausgerechnet Augsburg einen König hat. Falls du die kleine bayrische Fuggerstadt am Lech überhaupt kennst. Bertolt Brecht ist wohl ihr bekanntester Sohn. Brecht sagte einst über seine Heimatstadt: „Das Beste an Augsburg ist der Zug nach München.“ Der österreichische Dramaturg Thomas Bernhard legte seinem Zirkusdirektor einst die melancholisch-depressiven Worte „Und morgen Augsburg!“ in den Mund.
In Augsburg wohnt mit dem „König von Augsburg“ einer der schrillsten Vögel Deutschlands. Eine der frühesten Erinnerungen, die ich an meine Schulzeit habe, ist eine Begegnung mit Gerhard Hermanutz (der bürgerliche Name des Königs). Damals stand er noch mit Krone und in eine Toga gehüllt barfuss vor dem prachtvollen Augsburger Renaissance-Rathaus und verkündete: „Es gibt keine Schulpflicht!“
Das hat unseren Lehrer damals so angekotzt, dass er sich auf eine Grundsatzdiskussion mit dem König einließ, die er aber haushoch verlor, weil wir Kinder den König natürlich besser fanden und er nur laut lachend auf alle Argumente unseres Lehrers reagierte.
Ich wollte also endlich wissen, wer der Mann eigentlich ist, der seit fast 20 Jahren jeden Tag vor dem Rathaus steht und danach durch die Stadt wandert. In den letzten Jahren ist ein regelrechter Kult um ihn entstanden. Er hat mittlerweile über 13.000 Facebook-Likes.
Als ich vor wenigen Wochen wieder einmal in meiner Heimatstadt war, trafen ein befreundeter Fotograf und ich den König an seinem Lieblingsplatz und verbrachten einen Samstagnachmittag mit ihm. Um genau zu sein, war es sein 21756. Tag auf dieser Erde; sein Bart war an diesem Samstag genau 1000 Tage alt, erzählte er uns glücklich mit bald zahnlosem Lächeln, denn, so der König: „Das Gebiss ist nicht für die Ewigkeit bestimmt.“
Wie das denn alles eigentlich angefangen habe, will ich wissen. „Na ja, ich habe mir vor etwa 20 Jahren gedacht, warum eigentlich alle Menschen außer mir Schmuck tragen. Also habe ich mir die extremste Form von Schmuck gebastelt—eine Krone aus Goldpapier—und habe begonnen, damit herumzulaufen. Dann ist mir die Idee im wahrsten Sinne des Wortes zu Kopfe gestiegen“, erinnert er sich erfreut.
Für ihn ist sein Königtum Perfomance-Kunst, aber auch eine Form von Arbeit. „Das ganze Leben ist Arbeit“, war vor ein paar Jahren die Botschaft an seine Untertanen, die er durch die Augsburger Innenstadt rief. Außerdem gibt es in Deutschland ja „gnädigerweise“ freie Berufswahl, wie er feststellt. Also entschied er sich eben dazu, König zu werden.
Von Gauck hält der König gar nix. Warum auch?
Wir wandern mit dem König durch Augsburg. Dabei erzählt mir der schrullige Freidenker lachend: „Ich hatte schon immer ein schweres Autoritätsproblem. Aber das habe ich ja mit meiner Berufswahl perfekt gelöst.” Um genau zu sein, hat er ein Problem mit allem, was irgendwie nach Konvention oder überliefertem Wert klingt und von keinem hinterfragt wird. Egal was.
Deshalb sang er im Hochsommer 2009 ca. 50000 Mal (ja er hat mitgezählt) laut Stille Nacht, Heilige Nacht auf seinen Rundgängen durch die Stadt. Denn er hat es halt einfach überhaupt nicht eingesehen, dass es nur an Weihnachten gesungen wird.
Den 7-Tage-Takt kann er auch nicht leiden. Er will ihn unbedingt abschaffen, weil der durch die Bibel vorgegeben sei: „In sieben Tagen hat Gott die Welt erschaffen und wir sollen das wohl in alle Ewigkeit wiederholen!“, stellt er entrüstet fest. Deshalb hat er einen nach Farben geordneten Kalender eingeführt: Es gibt die blaue, lila, orange und die grüne Woche. Auch seine Kleidung richtet sich strikt nach dieser Farbordnung. Wir waren mit ihm in der blauen Woche unterwegs.
Sogar T-Shirts vom König gibt es mittlerweile
Der König und ich biegen in die Fußgängerzone ein. Er geht jeden Tag die gleiche, festgelegte Route und verfolgt seine seltsame Mission. Aber nicht nur in Augsburg ist der König unterwegs. Er reist viel. Dieses Jahr schon sieben Mal. Immer die gleiche Route versteht sich. 12 Städte systematisch im 16-Tage-Takt, dazwischen vier Tage Augsburg. Auf seinen Trips fährt er auch immer nach Berlin. Dort postiert er sich meistens auch vor Schloss Bellevue und hofft irgendwann einmal den Bundespräsidenten Joachim Gauck zu treffen. Aber nicht, weil er ihn bewundern würde, sondern damit er ihm mal gehörig die Meinung geigen kann: „Ich glaube mit dem würde ich mich heftig streiten. Das sind doch alles ausgelutschte Begriffe, die er in seinem Büchlein Freiheit benutzt: Toleranz und Verantwortung. Heißt doch nix! Toleranz ist einfach nur Gleichgültigkeit.“
Als der König die Christensänger sieht, sagt er nur kopfschüttelnd: „Fundis.”
Neben seinem guten Verständnis und Interesse für Politik, verblüfft mich vor allem seine Affinität zu Zahlen, Mathematik und der Zeit. Als er mich fragt, wann mein Geburtstag ist, sagt er wie aus der Pistole geschossen: „Ah, das war ein Mittwoch.“ Was auch stimmt. Er kennt die Stufenzahlen aller wichtigen Augsburger Treppen auswendig. Schwedenstiege: 71 Stufen, berichtet er uns, als wir sie gemeinsam empor klimmen. Perlachturm: 258 Stufen. 2010 gewann er den Perlachturmlauf in seiner Altersklasse. Den Pokal präsentiert er mir stolz zuhause.
Des Königs Pokal für den Perlachturmlauf
Er ist sichtlich erfreut, dass sich jemand die Zeit nimmt, mit ihm zu reden und zuzuhören. „Ich bin immer alleine, privat wie öffentlich.“ Deshalb lädt er uns wohl auch zu sich nach Hause ein, als wir an seiner kleinen Behausung angekommen sind. Dort, in einem Teil der alten Augsburger Stadtmauer, lebt der König seit 10 Jahren. Davor wohnte er mit seiner Mutter ein Jahr in der Fuggerei, der ältesten Sozialsiedlung der Welt.
Der König bittet uns an seine Tafel. Es gibt Orangensaft, Tomaten, Brot und Margarine. Er lebt streng vegan: „Tiere sollen wegen mir nicht leiden.“ Beim Essen erzählt er uns, dass er sich über einen Nachfolger freuen würde. Oder, wenn einfach mehr Menschen auf ihn zugehen würden. Das Wort Begegnung fällt oft in unserer Unterhaltung.
Des Königs Tafel.
Vergnügt zeigt er uns zum Abschied noch seine Sneakersammlung, die streng nach Farben geordneten Kleidungsstücke (um seinen Farbkalender einzuhalten) und alte Familienfotos. Danach macht sich der König auf, um seine Abendrunde durch die Stadt zu absolvieren. Ich lasse ihn alleine weiter seine oft einsam wirkenden Runden ziehen, durch die er hofft, die Menschen versöhnen zu können. Denn das scheint seine königliche Mission zu sein: Begegnung unter den Menschen ermöglichen und ihnen ihre Menschlichkeit zeigen.