Das Anagramm für „Hochkultur“ ist nicht „Julia Engelmann“

Heute wollte ich aus der Gemeinde Facebook austreten. Wirklich. Ich war kurz davor. Ich hatte meinen Glauben an das Internet bereits aufgeben — meine User-DATA gepackt. Aber sollte mich der mittelmäßige Slam-Text der Julia Engelmann, der im Internet öfter geteilt wird als grammatikalisch unzulängliche Fußballerweisheiten, wirklich zu einem solch gewagten Schritt bringen?

Zugegeben: Es gehört sicherlich Mut dazu, sich vor ein Publikum zu stellen, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Auch soll dieser Text nicht per se die Person Julia Engelmann niedermachen, denn auch ich erwarte von meinen Lesern dezidierte Kritik zu meiner Prosa. Die sollte jedem Slammer in gleicher Weise zustehen.

Dass der Stern allerdings titelt, dass „dieses Video ihr Leben verändern könnte“, ist mir nicht nur unbegreiflich. Nein, es untergräbt auch die vielen Stunden Arbeit, die unsäglichen Tränen und Niederlagen, die jeder hart arbeitende Lyriker in seine Texte investiert. Nur um sich dann von einem bis zum Erbrechen zitierten: „Lass uns die Geschichten schreiben, die wir später unseren Kindern erzählen“, vom Thron reißen zu lassen.

Aber der unterhypte Wutbürger echauffiert sich über jede Kritik, will in Julia Engelmann gar Goethe wieder auferstanden sehen!

Unter dem Spiegel Online Post auf Facebook wird ein Kommentator, der Engelmanns Text anhand seiner lyrischen Kleingeistigkeit kritisiert, vom Mob zur digitalen Schlachtbank geführt. Er sei doch sowieso „links und voll anti“ oder eben einfach nur sauer, „weil die Frau ihm den Spiegel vorhält”.

Aber mitnichten! Diese Frau hält nur demjenigen einen Spiegel vor, der sich in den letzten zehn Jahren dämlich-debil durch die deutsche Medienlandschaft durchgeschlängelt hat. Dem bis heute nicht ein einziges Mal aufgefallen ist, dass die NEON das Thema von Engelmann jede zweite Woche als Aufmacher bringt. Es wird dort unter der Headline „Lebe den Moment“ zusammengefasst.

Dass die Rhythmik holprig ist, kann ich jedem Lyriker verzeihen. Aber dass im Netz Reime wie: „Kann auf keinsten was reißen, das mich begeistert für Leichtsinn“ Anklang finden, macht mich sprachlos. Wenn eine neue, gar wirklich talentierte Simone de Beauvoir wegen dieses Youtube-Videos in der Versenkung verschwindet, dann werde ich das der Medienlandschaft nie verzeihen. Auch nicht meinen Facebook-Freunden. Ihr seid übrigens alle doof.

Aber gut, ich werde ungerecht. Dabei kann die Engelmann wirklich nichts dafür.

Trotzdem darf nicht jeder Hype straflos an uns vorbeiziehen. Ich höre förmlich schon die Reaktionen auf diesen Artikel, die mir einen krankhaften Neid attestieren. Dazu kann ich nur bekennen:

Stimmt, ich bin neidisch.

Ich bin neidisch, weil ich und viele meiner Kollegen Tag für Tag nichts anderes tun, als nach neuen Worten und Satzfragmenten zu suchen, um alte Sachverhalte auf eine tiefgründige und imaginative Weise neu auszudrücken. Weil Kollegen, die sich des Klischees entledigen wollen, wie es einst Hemingway vom schreibenden Berufsstand forderte, in den Buchhandlungen von oberflächlichen Slammern in die zweite Reihe gedrängt werden.

Weil sie eben nicht massentauglich sind. Weil sie vielleicht nicht blond und hübsch genug sind. So wie der kamerascheue Gothik-Lyriker aus dem Rheinland, der eben genau die Worte findet, die uns tief in unseren Gedärmen treffen — nicht nur an der bloßen Gänsehaut.

Auch bin ich neidisch, weil zum Beispiel dieser ungünstig gesetzte AB-AB-Reim: „Ich würde gerne vieles sagen, aber bleibe meistens still, weil wenn ich das alles sagen würde, wär’ das viel zu viel“, von einem Medienaufgebot zum Altar des lyrischen Kniefalls getragen wird, während Franz Kafka sein Leben lang nur einfacher Prokurist war.

Ich bin gar wütend, weil ich einen Text ganz schnell nicht mehr leiden kann, wenn er weder geistreich noch kreativ ist. Dazu fehlt mir einfach die Leichtigkeit meiner Coke Light saufenden Mitstreiter, die sich YOLO auf den Hippocampus tätowieren.

Abschließend hören wir von Engelmann dann noch den Erguss: „Lass uns nachts lange wach bleiben, aufs höchste Hausdach der Stadt steigen.“ Oho! Wie verrückt diese Welt, die uns da lyrisch aufgetan wird!

Was wir nicht alles erreichen können, wenn wir uns nur endlich, endlich trauen, nachts mal richtig krass lange aufzubleiben, um dann … öh ja … auf ein Hausdach zu steigen.

So. Jetzt ist es raus. Die Flasche Wein ist geleert. Mein Text am Ende.

Führt mich zur Schlachtbank. Aber ich werde mich wehren, meine Meinung immer wieder kundtun, weil ich nicht einsehen will, dass ich in einer Generation biederer Yuppies gefangen bin, die sich von solch einem Quark beeindrucken lassen. Was ist das überhaupt für eine Generation, die erst durch einen mittelmäßigen Text aus Bielefeld eingesehen hat, dass das Leben viel zu kurz ist?

 

 


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